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Die Freunde von Max Picard

Am 7. September 1982 wurde eine Gedenktafel, die am Geburtshaus von Max Picard in Schopfheim angebracht worden war, enthüllt.

Der Sohn  Michael Picard  hielt folgende Dankesrede:

 

   Als Sohn von Max Picard  darf ich der Stadt Schopfheim für die Ehre danken, die sie meinem Vater erweist, indem sie an seinem Geburtshaus eine Gedenktafel anbringen lässt. Mein ater hätte sich darüber sehr gefreut, und diese Freude wäre, wie ich ihn kannte, tiefer motiviert gewesen, als es bei einer gewöhnlichen Ehrung der Fall ist: Ihre Ehrung wäre ihm nämlich als eine Art Aussöhnung vorgekommen.

Weshalb Aussöhnung ? Die Beziehung meines Vaters zu Schopfheim war zwiespältig, wie man sie ja oft zu einem Ort seiner Herkunft hat. Auf der einen Seite eine Bindung, auf der anderen eine Ablehnung.

Meine Worte des Dankes sollen sich darauf beschränken, die Ablehnung und Aussöhnung zu erläutern.

Die Bindung, sofern man bei einem Menschen hineinsehen kann , beruhte wohl darauf, dass mein Vater hier seinen ersten Freunden begegnete; dass ihm hier zum ersten Mal aufging, was die Schönheit einer Landschaft ist - Landschaften hat er dann in seinen Büchern oft beschrieben: sie waren für seine Auffassung der Dinge wichtig, weil er darin etwas Unversehrtes sah, das uns von selbst gegenüber steht. Und in Schopfheim erlebte er auch das

Positive, das einer keinen Stadt mit ländlichem Umkreis eigen ist, weil hier die Beziehungen der Menschen untereinander übersichtlich, mehr noch, wie er sagte ganz konkret sind, wo das Menschliche nicht, wie in der grossen Stadt, weggesogen, weggewischt wird. Aus diesem Grund war er auch föderalistisch gesinnt, und gegen jeden politischen Zentralismus.

Und zuletzt, nicht zu vergessen, Schopfheim liegt auch in der Gegend von J.P.Hebel, in dem mein Vater, lang vor Heidegger, einen der ganz grossen Schriftsteller gefunden hat. Er war ihm beispielshaft wegen seiner, ich kann es nicht anders sagen, absoluten Unmittelbarkeit: diese gehört zu den Dingen und Menschen, sie bezeichnet sie, sie ist jedoch daraus kaum je ins Wort und in die Sprache übersetzbar, - bei Hebel finden wir es jedoch. Diese Ursprünglichkeit war für meinen Vater ein Zeichen, dass die Dinge und Menschen von einem Höheren geschaffen sind. Wenn ich dieses Persönliche noch hinzufügen darf: mein Vater lebte, oder versuchte, soviel ein Mensch das Vermag, in einer solchen Unmittelbarkeit zu leben. Ein Band Hebel lag übrigens auf seinem Nachttisch, als er starb.

 

   Um nun auch den Grund der Ablehnung zu verstehen, muss man sich in die Zeit um die Jahrhundertwende zurückversetzen. Es war nicht das Bedrückende, das einer kleinen Stadt auch eigen ist - darüber hat Jakob Burkhardt auch in Bezug auf Basel, eine Universitätsstadt, gesprochen; es war auch nicht der nicht ausdrückliche, aber doch immerhin der endemische Antisemitismus: darüber hat mein Vater sich nie beklagt, denn als Jude weiss man, dass man dort, wo man wohnt, Gast ist, doch nie ganz daheim sein darf.

Was er hingegen schon ganz früh spürte, war das Verkehrte, Unvernünftige, Unmenschliche, das dem damaligen Wilhelminischen Deutschland wenigstens teilweise eigen war - teilweise, denn alles war damals auch nicht so. Das war auch in einer kleinen Stadt spürbar, so gefährlich weit ging das Wilhelminische, es war sozusagen in ihrer Luft präsent. Mein Vater hat es schon früh erkannt, und er hat darunter gelitten, nicht wegen dessen, was es politisch ausdrückte und wollte, sondern von einer anderen Ordnung her: der Verfall des Menschlichen, des Wahren und Richtigen überhaupt, wenn ich es kurz so formulieren darf, trat ihm hier fast brutal deutlich entgegen. Dieser Verfall wurde dann später eines der grossen Themen seiner Bücher.

In diesem Zusammenhang gehört aber auch, dass er schon sehr jung mit Klarheit die Richtung sah, die die Dinge dann auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges dann genommen haben - nicht notwenigerweise, denn mein Vater glaubte an die Freiheit, die über alles Gegebene hinaus springen kann, doch immerhin mit einem starken Grad von Möglichkeit. Im Ersten Weltkrieg hat er auch seinen besten Jugendfreund, Eberhard mit Familiennamen, verloren, der aus der Gegend hier stammte, und den er nie vergessen hat.

Was dann nach 1933 gekommen ist, war so einschneidend anders, das es über alle vorherigen negativen Beziehungen meines Vaters zu Schopfheim hinausging. In Klammer gesagt: mein Vater ist jedoch auch der Autor des Buches "Hitler in uns selbst".

 

   Doch das alles ist nun lang vorbei, und nicht nur in der Zeit. Mit "Nicht nur in der Zeit" meine ich, dass Ihr Land, nach allem was geschah, der Welt ein Beispiel des Anderswerdens gegeben hat. Das war an sich nur eine Möglichkeit, doch dass das auch wirklich geschah, das ist ein Akt der Freiheit. "Ist", nicht "war", denn dieser Akt muss immer von neuem wieder aufgenommen werden. Das ist ein Beispiel für alle, die noch frei sind, oder die frei sein wollen.

Die Wiederaufnahme der Demokratischen Verfassung, die ja das alte deutsche Gemeinschaftsleben auszeichnete, geht so über das rein Politische hnaus. Schon deshalb, weil Sie die Würde des Menschen anerkennt, unabhängig davon ob es ein Freund, oder ein Gegner ist. Im Grund ist das die Anerkennung der Einzigkeit des Menschen, sofern diese im Staat überhaupt einen Raum haben kann.

Diese Wiederaufnahme bedeutet auch die Abwendung von jenem Exzessiven, so nannte es mein Vater, das zu Charakter des Wilhelmischen Deutschland gehörte und, mehr noch, die Abwendung vom absolut Exzessiven, das der totale Staat war.

 

   Wenn Sie es mir als Gast aus dem Nachbarland noch gestatten zu sagen: hier ist die Demokratie etwas Regeneratives, ihr wohnt eine regenerative Kraft inne. So hat es mein Vater auch aufgefasst, und deshalb hätte er die Ehrung, die ihm von Ihnen zukommt, als eine Art Aussöhnung verstanden.

Michael Picard

 

 

 

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MAX PICARD AUS DER SICHT SEINES SOHNES MICHAEL PICARD Vortrag gehalten in Schopfheim am 14. Oktober 1988 zur Feier des 100. Geburtstages von Max Picard

 

Mein Vater wurde 1888 in Schopfheim als Sohn schweizerischer Eltern jüdischen Glaubens geboren, deren Vorfahren zu den wenigen seit Jahrhunderten in der Schweiz ansässigen jüdischen Geschlechtern gehörten. Die Vorfahren waren arme Leute gewesen, die Eltern hatten es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht, und vielleicht ist es auch durch diese Herkunft in ihn übergegangen, dass er die sog. Kleinen Leute so gut verstand, nämlich im Reichtum des Menschlichen, den sie haben, und dass er sich bei ihnen nahe fühlte. Das auch wegen dessen, was er die "Unversehrtheit" nannte, die er bei ihnen mehr als bei anderen Menschen fand. Er besuchte das Humanistische Gymnasium in Lörrach und studierte dass in Freiburg und in Kiel Medizin, mehr um einem kaum ausgesprochenen Wunsch seines sehr gütigen Vaters zu entsprechen, der aber gerade deshalb für ihn massgebend war, als aus eigener Neigung. Das Studium schloss er in Freiburg mit einer Dissertation über die Progressive Paralyse ab. Darauf folgte die Ausbildung in Berlin in Chirurgie und in Heidelberg in Innerer Medizin. Während des ersten Weltkrieges war er auch in einem Lazarett tätig.

   Im Jahre 1919 zogen wir in die Südschweiz wegen des günstigeren Klimas, dessen meine Mutter bedurfte. Den Beruf als Arzt hat mein Vater dort nur selten ausgeübt. Im Tessin hat er dann seine meisten Bücher geschrieben, die auch in fremde Sprachen (darunter ins Schwedische, Tschechische und Japanische) übersetzt wurden. Die ersten Bücher hat er übrigens noch in Schopfheim geschrieben, eines über Mittelalterliche Holzfiguren und ein anderes über Hinterglasmalerei, - er hat darin beides als Ausdruck des Glaubens aufgefasst. Das gehörte dann zu einem der Themen seiner späteren Bücher, zu dem des Verhältnisses zum Absoluten, zu Gott. Diese Dinge hat er jedoch nicht theologisch oder soziologisch aufgefasst, auf keinem solchen Umweg, sondern so wie die Wirklichkeit, die wir sind, und in der wir leben, das selbst offenbart, im menschlichen Gesicht, in Kunst und Sprache, und in den allgemeinen Verhältnissen überhaupt. Wie jedem ursprünglich Denkenden war es meinem Vater eigen, die Dinge dort zu erkennen, wo sie gewöhnlich stumm erscheinen, und das in ihrer ganzen bildhaften Gewalt, weshalb auch viele Menschen, die dem Glauben fern standen, seine Bücher gelesen und geschätzt haben.

   Im Tessin gefiel es meinem Vater wegen der damals noch einfachen Verhältnisse, in denen das unmittelbare Menschliche, wie es sich im Guten und auch im Schlechten ausdrückt, stärker war als System und Organisation, und wegen der Landschaft, die er in vielen, teilweise noch ungedruckten dichterischen Beschreibungen geschildert hat.

   Im Jahr 1965 ist mein Vater bei Lugano, an den Folgen eines Unfalles, gestorben.

 

 

 

 

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   Zum Lebenslauf meines Vaters gehört auch seine Konversion zur katholischen Kirche im Jahr 1939. Was ihn dazu geführt hat, war das Dogma von der Menschwerdeung des Wortesmit welchem zwei seiner grundlegenden Überzeugungen verbunden waren. Die erste betraf die Freiheit und die freie Entscheidung: dadurch, dass in einer Knechtsgestalt Gott selber Mensch wurde, dass dieses Unerhörte geschehen ist, erhalte die Möglichkeit der freien Entscheidung für den Menschen ein ganz anderes Gewicht; die Macht von all dem, was uns beschränkt und bedingt, sei erst eigentlich gebrochen. Und dann war es die entscheidende Wichtigkeit, die mein Vater in dem erkannte, das wie er sagte, bildhaft ist, und das war für ihn vor allem das menschliche Gesicht. Darin interessierte ihn nicht, was über den Charakter eines Menschen herauszulesen wäre, weil er erkannte, dass sich im Gesicht etwas Wichtigeres ausdrückt, die Nichtigkeit des Menschen und seine Ebenbildschaft, das also was wir eigentlich sind, und was unser Schicksal ist. Das zeigt sich gerade im Gesicht in einer einzig deutlichen Weise, und diese Bedeutung des Leiblichen, Sichtbaren hänge damit zusammen, dass Gott selber Mensch und sichtbar geworden ist.

   Mein Vater blieb jedoch dem Judentum weiter verbunden, und in seinen späteren Jahren kam er durch die Lehre von der absoluten Einheit Gottes, eine der Hauptlehren, wenn nicht die Hauptlehre der jüdischen Religion, wieder dazu zurück. Er war ihm nämlich eigentümlich, die Dinge in ihrer Ursprünglichkeit zu erkennen, so wie sie sind, wenn man von allem Beziehungshaften, Relativierendem absieht, in das hinein "sie nur zerredet" werden, wie er sagte. Dann erscheint alles eindringlich in seiner Einheit, in mächtiger Weise "dieses hier". Darauf wies er die Menschen hin, und daraus lebte er selber persönlich, mit all dem Gewicht, das das für einen Menschen bedeutet. So wurde der Eine, Einzige für ihn immer wichtiger, Der, wie er sich ausdrückte, die Einheit "in die Dinge hineinsiegelt", und sie auf diese Weise seiend und sprechend gemacht hatte. Dazu kam noch der prophetische Teil des Alten Testaments, dem er sich durch seine Erkenntnis vom Abfall des Menschen und seiner immer nahliegenden Wiederherstellung verwandt fühlte.

 

 

 

 

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   Mein Vater war eher klein von Gestalt, dabei stämmig: jemand der sich in der Welt heftig bewegt. Er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht und darin besonders ausdrucksvolle Augen. Man hatte das Gefühl, dass hier alles Wesen, nichts Adjektiv ist, mit anderen Worten war seine Gegenwart als Mensch so dicht, dass man gar nicht mehr auf Charakter, Eigenschaften, Alter, Herkommen, oder auch Kleidung, schaute. Er hatte selbstverständlich auch Negatives in sich, doch blieb das ein Stück seiner Person, und riss ihn nicht auseinander. So stand ein ungewöhnlich einheitlicher  und wirkungskräftiger Mensch vor einem.

   Es kamen viele Menschen zu ihm und schrieben ihm, auch um ihn um Rat in schwierigen Lagen zu bitten. Man spürte, dass er die Fähigkeit hatte, eine Situation zu erkennen, wie sie ist - davor ist man ja in Wirklichkeit gestellt, nur ist sie einem oft verdunkelt - und auf diese Weise konnte er auch helfen. Was er sagte, wirkte umso stärker, weil man das Gefühl hatte, es stehe in seiner Person vor einem da: die Eindeutigkeit seines Wortes und seiner Person waren eins. Seine Gegenwart konnte so stark wirken, dass sein Dazwischentreten bei einer bösen Streiterei an einem italienischen Grenzposten - damals herrschte in Italien der Fascismus, und die Brutalität galt als gerechtfertigt - einmal einem unschuldigen, jedoch unvorsichtigen Menschen Schlimmes erspart hatte.

   War mein Vater also ein ganz ursprünglicher Mensch, so hatte diese Ursprünglichkeit doch nichts Extravertiertes. Er war zugleich zurückhaltend und scheu, eigentlich ein einsamer Mensch. Von daher erklärt es sich vielleicht, dass er sich so gut mit Handwerkern, Arbeitern, Bauern und kleinen Geschäftsleuten verstand: im sogenannt einfachen Menschen ist der Gehalt, das Geistige, das beim Denker oder Künstler Wort oder Bild wird, in sein Leben selbst eingewirkt. Das erfordert die Fähigkeit des Zuhörens und Zusehens, vor allem den Respekt vor solchen Menschen, und das ist eine Haltung die dem Einsamen, der sich selber nicht ausgibt, natürlich ist. Und auch er wird instinktiv verstanden, ohne dass er aus sich herausgehe.

 

   Da oben vom Fascismus gesprochen wurde, soll hinzugefügt werden, dass mein Vater von eher konservativer Gesinnung war, dass er das Politische aber nicht nur als eine Machtfrage ansah. Jeder Totalitarismus war ihm zuwider, und schon früh hat er die Gefahren des Faschismus erkannt und auch vor der verführerischen Anziehung gewarnt, die in solchen Ideologien manchmal auch für rechte Menschen liegt.  Und als viele Intellektuelle damals für Mussolini und für den Faschismus waren, sah er das als Zeichen der inneren Haltlosigkeit dieser Menschen an, die etwas formal scharf Umrissenes suchen, wie es die Ideologie der Gewalt ist, an dem sie sich halten können.

 

   Mein Vater hatte auch  einen grossen Sinn für Komik und Humor, und er konnte selber lang derartige Geschichten, sowie von sonderbaren Dingen erzählen, die sich an den Orten zugetragen hatten, wo er gewohnt hatte. Hier ist die Gelegenheit um noch kurz auf seine Verehrung für J.P.Hebel zu kommen, von dem er einen Band noch aus seiner Schülerzeit, mit den Gesichten und dem Rheinländischen Hausfreund, immer mit sich führte, und der auf seinem Nachttisch lag, als er starb. Wegen seiner Darstellung des Lebens, wie es unversehrt ist, hat er Hebel neben Herodot und sogar in der Nähe der Bibel gestellt. Verwandt hat er sich Hebel durch die Abwesenheit von allem "Denkmalshaften" gefühlt, und dadurch "dass es mit der Geschichte, die er erzählt, nicht aufhört, dass es dann nicht erledigt ist" : "und s'sin noch Sachen ähne dra" (Hebel: Der Wegweiser).

 

 

 

 

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Max Picard   Rede am Grab in Neggio am 6.Oktober 1965 von Benno Reifenberg

 

 

   Wir vermögen den Vorhang des Todes nicht zu heben, er lastet zuschwer, er ist absolut. Dennoch kann er durchscheinend werden, wenn auf seiner uns abgewandten Seite ein Wesen, das als Max Picard gelebt hat, auf uns schaut, wenn uns dann die Erinnerung an ihn ergreift. So war es schon, als dieser Mann mit uns auf Erden ging. Wir haben das erprobt. Ihn hier in Neggio zu wissen, das hat manchesmal ausgereicht, uns in den dunkelsten Jahren Hoffnung, ja Zuversicht zu schenken. Dort unten in dem Dorf des Malcantone, so kam uns in den Sinn, lebt Picard, dort glüht sein Geist, in der augenscheinlich geistverlassenen Welt der puren Macht. Er war ein der Menschenwürde unbeirrt zugewandter Denker. Wer ihm einmal begegnet ist, von Angesicht zu Angesicht, in seinen Schriften, in seinen Briefen, der war von ihm durchdrungen und wusste, nie werde er ihn vergessen.

 

   Wenn man den Einfluss seiner Werke durch dieses halbe Jahrhundert allzusehr pries, dann kam ihm wohl die fast erschrockene Wendung auf die Lippen: non sum dignus. Aber es ging eine seelische Energie aus ihm aus; seltenster Art, daran war nicht zu zweifeln. Er liess nicht von der Überzeugung, dass trotz unserer Zeit der disjecta membra, des Unzusammenhängenden, der Diskontinuität unseres Daseins - die er beobachtet hat wie kein anderer - , trotz der kolossaler Irrtümer, die sich ereignen, wenn die Dinge den Menschen bestimmen und nicht umgekehrt der Mensch die Dinge: er blieb trotz alldem überzeugt, das Menschenbild, wir zögern nicht, zu sagen, die Gotteskindschaft dieses Bildes, könne nicht ganz erblinden, es schwebe als Zeichen unserem Dasein voran.

 

   Aus einer so festen Gewissheit stammte Picards Gabe, dem einzelnen verwirrten Geschöpf beizustehen. Ich sage ausdrücklich: dem einzelnen, der auf sich selbst zurückgeworfenen Person. Wenn eine heilende Beziehung sich ereignen soll, müssen die Helfer wie der Leidende einander in die Augen schauen, damit das Einmalige jeder Kreatur erfahren, erlebt und geachtet wird. Bis in die eigene Krankheit hinein hat Max Picard denen, die sich ihm vertrauensvoll näherten, Rat gespendet. Wohl auch ärztlichen Rat - er verlor nie die Aufmerksamkeit für das Gehaben des menschlichen Körpers - wie auf eine weltlich seelsorgerische Weise. Indem er sich mit einem Einzelschicksal abgab, mit jedem nach dessen Verfassung behutsam umging, kam in seiner leidenschaftlichen Natur auch Zärtlichkeit zutage. Er selbst, in seiner Empfindungskraft, war nicht leicht zu nehmen. Er kannte den wilden Zorn, wenn ihm das Nichtsnutzige in die Quere kam, und schrankenlos vermochte er das Edle, das Gütige zu bewundern. Die Substanz in der kleinen, kernfesten Gestalt war aufs heftigste von den Affekten durchblutet.

 

   Aus solchen Bedingungen erklärt sich die singuläre Art seiner Wirkung. Diejenigen, die ihn zu lesen verstanden, sind noch stets von Picards Werken getroffen gewesen. Eine jähe Erschütterung bis ins Mark ereignete sich, als er einmal unmittelbar seine Zeitgenossen angeredet hat. Das Buch "Hitler in uns selbst" war die erste entschlossene Bilanz, die von Einsicht und Wahrheitsliebe für die Epoche der zweiten Nachkriegszeit gezogen worden ist. Das Buch lief, in vielen Sprachen übersetzt, über das ganze Erdenrund.

 

   Doch der in Furcht und Liebe vor dem Menschenantlitz erschütterte Mann verharrte in seiner Abgeschiedenheit. Was ihm an Grauenvollem und auch an Dummheit zur Kenntnis gebracht wurde, es hat ihn von seiner literarischen Arbeit nicht abgehalten, und er blieb - das muss man von Picard wissen, um ihn zu verstehen - dem Leben dankbar. Er hielt sich, wie er einst im Hebelischen Wiesental aufgewachsen war, dicht an die Natur, kannte Frucht und Korn, redete mit den Bauern, dem Fischer am See; man bewunderte sein rüstiges Gehen, und die vielen einfachen Leute, die den Gelehrten kannten, bewunderten ihn auf eine rührende Art. Er reiste wenig. Man kam zu ihm, und das genügte. War er von seinen Besuchern angetan, gab er im Gespräch Erzählungen zum Besten, wie Geschenke fanden sich darin Kindlichkeit und Schelmerei. Allgemach erkannte er eine verborgene Heilwirkung im Beispielhaften. Er half den Leuten, die ihm ihre Sorgen berichteten, als seien sie allein von solchen Unbilden betroffen, indem er ihnen eine Geschichte erzählte von jemandem, dem es ähnlich ergangen war. Auch das war Hebelsche Manier.

 

   Es passte zu Picard, dass ihm so gut wie keine öffentliche Ehrung zuteil geworden ist, jedenfalls keine, die dem Gewicht seiner Werke entsprochen hätte. Picards Bücher, wie etwa über "Das Schweigen" oder über "Das Wort", scheuen nicht den Stil des Psalmodischen, des bewussten Wiederholens. Sie bringen die ausserordentlichsten Einblicke in Form von Gleichnissen, in einer Form also, die nur einer dichterischen Sprache erlaubt sein darf. Die Sprache Picards offenbart, dass seine Gedanken als Einsichten des Herzens entstehen.

 

   Hier liegt die Autorität seines Urteils, auch die seiner apodiktischen Verurteilung einer verfahrenen Situation der einzelnen wie die der Völker. Sein physiognomischen Betrachten, zum Beispiel in dem Werk "Das Menschengesicht"  rechtfertigt sich als Zugang zu einer unterirdischen Verbundenheit der Charaktere. Was Picard daraus folgert, offenbart eine vollkommene Ursprünglichkeit, ist so überraschend wie schlagkräftig. Ich denke an einen satz wie : "Der Mensch kann so sein, wie er aussieht, aber er muss nicht so sein." 

 

   Zum Geheimnisreichen dieses wunderbaren Mannes mag es gehören, dass ihm am Ende seines Lebens Dunkelheiten angefallen haben, wie er solche in seiner Jugend gekannt hat. Er verfiel in Perioden langer Schlaflosigkeit, die dich auf die körperliche Widerstandsfähigkeit  verhängnisvoll auswirken mussten. Er selbst sprach von Depressionen als Ursache. Aber es konnte ja auch die Schlaflosigkeit der Ursprung der Depression sein. Er litt an Zuständen, die so rätselhaft kamen, wie sie gingen. Er mag erfahren haben, was sich nicht zum Erzählen eignet. Immer seltener war aus seinem Mund der Rug zu hören, womit er etwas Hübsches, Gütiges, Lösendes zu loben pflegte: "Das ist ganz schön!" Wie gerne möchten wir diesen Satz noch einmal vernehmen, wie haben wir im Ohr: das ist ganz schön.  Es war, als ginge er in seinem Inneren auf Pfaden der Einsamkeit, das Metaphysische rückte näher. Dabei schwand sein Körper dahin, der in sorgsamer Pflege nur noch wie ein kindlicher zu behandeln war. Um so weniger erlosch sein Bild. Es wächst, und keine Strahlkraft dauert. Es ist die Aura des Unvergesslichen, die so leuchtet.

 

                                                                                              Benno Reifenberg

 

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